Ein echter Held für Sin City
von Christoph „Icke“ Dommisch
In meiner Lebenswelt spielt es keine Rolle, ob jemand hetero, schwul, lesbisch, bisexuell oder transgender ist. Die sexuelle Orientierung von Carl Nassib, Defensive End der Las Vegas Raiders, war daher zunächst kein relevantes Thema für mich.
Das änderte sich am 21. Juni 2021, als Nassib in einem leichtmütigen Selfie-Video verkündete: „Hey Leute, ich wollte euch nur kurz Bescheid sagen, dass ich schwul bin.“ Ich dachte: Okay, cooler Dude. Es imponiert mir, wie lässig er das macht. Der 28-jährige ist der erste bekennend homosexuelle aktive NFL-Spieler in der 101-jährigen Geschichte der Liga. Mehr noch, Nassib ist überhaupt der erste aktive männliche Profi in Mannschaftssportarten wie Baseball, Basketball, Eishockey oder Football, der sich öffentlich zu seiner homosexuellen Orientierung bekennt. In den Frauen-Profi-Ligen des Basketballs (WNBA) und des Fußballs (WNSL) gibt es LGBTQ-Athletinnen. Die beste UFC-Kämpferin, Amanda Nunes, ist lesbisch. Was in der Frauen-Sportwelt also zum Großteil bereits akzeptierte Wirklichkeit ist, dient bei den Männern als Aufreger. Dabei gilt Sport in Gesellschaftsfragen seit jeher als progressiv und manchmal sogar als Tabu-Brecher. Beim Thema Sexualität ist er aber mindestens rückständig. Man könnte sogar behaupten, er sei ein Relikt homophober Vergangenheit. Das könnte sich durch Carl Nassib und seinen mutigen Schritt nun ändern.
Der Zeitpunkt seines Coming-outs war sicher nicht zufällig gewählt. Seit den 70er Jahren wird im Juni der „Pride Month“ zelebriert, der in den Straßen von New York seinen Ursprung hat. Mittlerweile ist die LGBTQ-Bewegung zu einer weltweiten geworden und hat zur wachsenden Gleichberechtigung und Akzeptanz alternativer sexueller Identitäten in der Gesellschaft beigetragen.
Besonders US-Sportstars verstehen sich als gesellschaftliche Treiber für Fortschritt und Veränderung. Sie nutzen ihre Plattform, um Probleme in den Fokus zu rücken und haben damit immer wieder Veränderungen angestoßen.
1968 – Tommie Smith und John Carlos auf dem Treppchen bei Olympia mit ihrer Black-Power-Geste. Magic Johnson half durch Bekanntmachung seiner AIDS-Erkrankung, die Vorurteile und Falschbehauptungen über die Krankheit zu beenden. Und jüngst fällt einem als NFL-Fan sofort Collin Kaepernick ein, der mit seinem Protest vor den Spielen auf Polizeigewalt und anhaltenden Rassismus in den USA aufmerksam machte. Gerade beim Thema „Black Lives Matter“ sind die NFL und vor allem die NBA Antreiber der Bewegung.
Nassibs Wegbereiter
Eine Bewegung für mehr sexuelle Diversität gab es bislang nicht. Vor allem, weil es an Vorbildern fehlte. Dave Kopay war der erste NFL-Spieler und US-Profisportler überhaupt, der den Schritt an die Öffentlichkeit wagte: 1975, drei Jahre nach seinem Karriere-Ende, erklärte er im Washington Star, dass er homosexuell sei. „Es hat lange gedauert, zu lange, bis ich mich selbst akzeptieren konnte. Ich hoffe, dass ich den Weg bereiten kann, damit andere früher die Freiheit haben, sie selbst zu sein.“ Später sagte er, dass er sich nach dem Artikel wie ein Ausgestoßener fühlte. „Blackballed“ vom Football, von seinem College und den NFL-Profis. Knapp ein Dutzend weitere Spieler wagten den Schritt ebenfalls erst nach der Karriere.
2014 outete sich Michael Sam unmittelbar vor seinem Draft. Er wurde in der siebten Runde von den Rams gepickt, ein NFL-Spiel absolvierte er nie. 2017 outete sich Jake Bain von der John Burrough Highschool. Die Nachricht vom homosexuellen State Champion (255 Yards im Championship Game) war in den Medien ein Riesenthema. Neben Hass, der ihm im Netz entgegenschlug, wurde er auch auf dem Feld Opfer von gezielten körperlichen Attacken, Targeting genannt. Homophobe Beleidigungen gab’s obendrein. Bain schaffte es zwar an ein Division-I-College, hatte aber mit Depressionen zu kämpfen und beendete seine Football-Karriere vorzeitig.
Nassib als Wegbereiter?
Nach Carl Nassibs Bekanntgabe sagte Dave Kopay: „Ich sehe die ganzen Reaktionen auf Carls Statement und es gibt mir ein Gefühl der Zufriedenheit, auch wenn ich erwartet hatte, dass es 40 Jahre früher passiert.“ Viel Unterstützung gab es u. a. vom Teamkollegen Maxx Crosby, Coach Jon Gruden, College-Freund Saquon Barkley und vielen weiteren Profis. Auch NFL-Boss Roger Goodell und Tennis-Ikone Billie Jean King, die sich 1981 als erste bekannte Profisportlerin offen zu ihrer Homosexualität bekannte, würdigten den Schritt. In den sozialen Medien gab es viel Zuspruch und die offiziellen NFL-Accounts verbreiteten Nassibs Outing. Im Juni hat die Liga ihr Logo in Regenbogenfarben getaucht und fördert seit 2018 Projekte für Inklusion im Jugendsport. Troy Vincent, Ex-Profi und Vize-Präsident der NFL schrieb 2020 ein Essay mit dem Titel: „Die NFL ist bereit für den ersten aktiven schwulen Spieler.“ So sehnlich der Wunsch nach Veränderung scheint, so klar ist auch, dass er heute quasi ein Must-have im Marketing-Repertoire einer globalen Marke ist. Wie wahrhaftig der Wandel im Umgang mit LGBTQ ist, werden wir erst wissen, wenn im Herbst die Saison startet und volle Stadien auf die Profis warten. Der Schritt von Carl Nassib ist bewundernswert und kommt bei all dem Zuspruch wohl zum richtigen Zeitpunkt. Aber es muss auch einen Grund geben, warum er erst jetzt möglich ist.
Männer-Sport – die letzte Bastion
Cathy Renna von der US-amerikanischen LGBTQ-Taskforce bezeichnet Sport als „letzte Bastion, in der Homophobie noch gedeihen kann“. Troy Vincent sagte in seinem Essay, es muss weiter daran gearbeitet werden, eine Umgebung der Akzeptanz zu schaffen. So vorbildlich und konsequent sich Profis sozial und politisch engagieren, so selten beziehen sie bei LGBTQ-Themen Position.
Genauso regelmäßig und demonstrativ der Zusammenhalt im Locker Room propagiert wird, wird immer auch glorifiziert, dass es ein sportlicher Kampf ist. Er oder Ich, nur einer bekommt den Spot im Team und es geht dabei oft genug um nichts weniger als die Entscheidung über Job oder Arbeitslosigkeit. Athleten, die jede Sekunde ihre Gesundheit riskieren und bereit sind, über die Verletzungsgrenze hinaus zu gehen, suchen immer nach einem Vorteil, um sich durchzusetzen. Jede Angreifbarkeit bedeutet zusätzlichen psychischen Druck, es hängen nicht selten Familienschicksale und Lebensleistungen an der Er-oder-ich-Frage. So lange Homosexualität von der Gesellschaft als Schwäche aufgefasst wurde, bot sie Angriffsfläche. Vermutlich ein Grund, warum in der Vergangenheit nicht mehr Profis ihre sexuelle Orientierung öffentlich machten.
Natürlich ein Raider
Doch Zeiten ändern sich und auch das Umfeld von Carl Nassib, in dem er die Entscheidung zur Offenheit traf, könnte diese positiv beeinflusst haben. Wenn man sich mit der Geschichte der Raiders auseinandersetzt, bekommt man die Hoffnung, dass Nassib auch während der Saison die Unterstützung der eigenen Fans sicher sein sollte. Und das obwohl das „Black Hole“ der Las Vegas Raiders als einer der berüchtigtsten Fan-Blocks der NFL gilt. Im Kontrast dazu geht Franchise bei gesellschaftlichen Themen mutig voran. 1968 wählte man in der ersten Draft-Runde mit Eldrige Dickey als erstes Franchise einen schwarzen Quarterback. Raiders-Besitzer Al Davis machte 1979 mit dem Mexikaner Tom Flores als zweites Team einen Latino zum Head Coach. Flores gewann zwei Super Bowls mit den Raiders und wurde von Art Shell beerbt. Shell war 1989 der erste schwarze Head Coach der modernen Football-Ära. 1997 ernannten die Raiders Amy Trask zur ersten weiblichen Geschäftsführerin eines NFL-Teams. Es ist also nur passend und wohl kein Zufall, dass Nassib die schwarze Uniform der Raiders trägt. Die „Silver and Black“-Franchise umgibt dieses besondere Gefühl der Unverwundbarkeit, immun gegen alle Angriffe von außen. Das verleiht ihren Mitgliedern den Mut, sie selbst zu sein.
Der ein oder andere wird sich fragen, warum ich am Anfang bewusst erwähnte, dass es für mich zunächst ein uninteressantes Thema war. In meiner Hood gibt es u. a. ein Queer-Zentrum, der Bayrische Landesverband der Lesben und Schwulen hat in der Nähe sein Büro. Zudem arbeite ich in einem Medienkonzern, der vor Monaten ein Transgender-Model zu „Germany’s Next Topmodel“ gekürt hat. Viel liberaler geht’s nicht. In meiner Welt ist das freie Ausleben von sexueller Orientierung und alternativen Lebensmodellen bereits Realität. Erst bei den Recherchen wurde mir klar, wie sehr der Männer-Sport in diesem Bereich hinterherhinkt. Mir ist bewusst, wie wichtig Nassib für viele Menschen da draußen sein kann, die nicht in meiner urbanen Freiheits-Oase leben. Es ist ein Thema, für das man sich sehr wohl interessieren kann, vielleicht sogar sollte. Und Carl Nassib hat schon etwas bewirkt. Mitte Juli erklärte der 19-jährige NHL-Profi Luke Prokop als erster Eishockey-Spieler: „Ich habe keine Angst mehr zu zeigen, wer ich bin. Ich bin schwul.“