VHS-Kassetten, Freak-Veranstaltungen und Mythen
Von Jonas Friedrich
Meine Schätze lagerten sicher aufbewahrt in einer liebevoll beschrifteten Pappschachtel: „NFL“ stand drauf. Darin: ein gutes Dutzend durchgenudelter VHS-Kassetten, mein ganzer Stolz. Für die Jüngeren unter Euch: VHS steht für „Video Home System“. Und ja, ich erzähle jetzt von früher und davon, wie schwierig es war, an NFL-Spiele ranzukommen.
In der Nähe von Stuttgart, 1995. Ich hab’ in der Jugendmannschaft der Holzgerlingen Saints gespielt (den Verein gibt’s immer noch (!) – inzwischen sind’s die Holzgerlingen Twister).Zweimal die Woche bin ich mit mäßig riechendem Shoulder-Pad, Helm und Sporttasche zum Training gefahren. Meistens mit dem Bus, begleitet von neugierigen Blicken und bohrenden Fragen: „American was? Ah, das mit dem Ei? Tut das weh?“
American Football war damals der Rand des Randsports. Eine sympathische Freak-Veranstaltung. In Baden-Württemberg gab’s eine Handvoll Mannschaften, wir spielten in einer Liga mit den „Sindelfingen Gators“, den „Badener Greifs“ und den „Mannheimer Löwen“. Unsere größte Sorge bestand darin, ob wir 22 Mann fürs nächste Spiel zusammenbekommen. Das gelang meistens, aber nicht immer. Die gute Seele unserer Mannschaft war Coach Emmitt, ein stämmiger ehemaliger Defensive Lineman, den ein Job bei der US Army nach Deutschland verschlagen hatte. Er brachte uns die Grundzüge des Spiels bei. Technik, Regeln, Taktik. Wir hatten ein 12-seitiges Playbook, spielten aus einer soliden Running-Offense in Wishbone-Grundformation, in der ich meistens als linker Half-Back auflief.
Naturgemäß fanden wir als Mannschaft die theoretischen, taktischen Themen rund ums Playbook eher mäßig spannend. Und jedes Mal, wenn Coach Emmitt unsere volle Aufmerksamkeit wollte, begann er seinen Satz mit: „In the NFL …“ – das waren die drei magischen Buchstaben und schlagartig stellten wir die Lauscher auf Empfang.
Die NFL war ein Mythos. Ein Mythos, von dem wir keine Ahnung hatten. Es war die Zeit, in der es in Deutschland cool wurde, NFL-Merchandise zu tragen. Jacken und Base Caps der Los Angeles Raiders, der San Francisco 49ers oder der Chicago Bears. Das waren die ersten – damals noch undergroundigen – Berührungspunkte. Mehr gab’s nicht. Und im Prinzip war elementarer Bestandteil des Mythos, dass wir nichts über die NFL wussten. Woher auch? Ganz sporadisch gab’s Artikel in Tageszeitungen. Ab und zu bekam man eine „Huddle“ in die Finger. Spiele im Fernsehen? Gab’s nicht. Auf „Premiere“ wurde der Super Bowl übertragen, aber wer hatte schon „Premiere“? Und die einzige Möglichkeit, Spiele zu sehen, waren schlechte VHS-Kopien, die ab und zu in den umliegenden Barracks der US Army aufgenommen wurden.
Zu unserem bzw. zu meinem Glück machten auf diesem Weg immer wieder ein paar schäbige VHS-Kopien die Runde im Team. Meistens mit einer Highlight-Show, also kurzen Zusammenfassungen eines Game Days. Das war mein Fenster in die große weite Welt der NFL, eine unglaubliche Welt.
Stundenlang saß ich vor dem Fernseher. VHS-Kassette eingelegt, angeschaut, zurückgespult. Nochmal angeschaut. Fasziniert von diesen wenigen, flimmernden Video-Schnipseln. Allein diese Stadien. Die Chicago Bears spielten im altehrwürdigen Soldier Field, einem Stadion mit römischen Säulen, sehr imposant. Dieses gigantische Dome in New Orleans. Sagenhaft! In Tampa Bay feuerten sie Kanonen zum Touchdown! Überhaupt, die Teams und ihre Spieler! Ich lernte, dass es in Green Bay prinzipiell zwölf Grad minus hat und das Spiel gegen Chicago eine ernste Sache ist. In Miami dagegen immer gutes Wetter, und der Quarterback war ein Sonnyboy namens DAN MARINO.
Es hat unfassbar viel Spaß gemacht, diese Videos zu schauen. Mehr und mehr verstand ich von dieser Liga. Mir wurde klar, dass die Buffalo Bills traditionell knapp scheitern. Dass in Pittsburgh jede halbwegs gute Defense Steel Curtain genannt wird. Und dass man die Dallas Cowboys entweder liebt oder verachtet.
Dann kamen die Playoffs von 94/95, die ersten Playoffs, die ich „hautnah“ verfolgte. Wobei „hautnah“ in dem Fall ein sehr dehnbarer Begriff ist. Hautnah hieß damals, dass ich das Ergebnis frühestens zwei Tage nach dem Spiel rausbekam. Aus der Zeitung. Und frühestens fünf Tage später gab’s dann eine VHS mit Highlights. Ich erinnere mich an das frühe Aus der Kansas City Chiefs und meinen ersten Defensive-Hero Derrick Thomas (leider mittlerweile verstorben – er hatte einen sensationellen Golf-Swing-Jubel nach Touchdown).
Im Lauf der Playoffs begann ich einen Faible für die 49ers zu entwickeln. Ihre West Coast Offense mit irre vielen und kurzen Pässen war spektakulär. Jerry Rice war ein Gigant. Ken Norton Jr. hielt die Defensive zusammen. Ich verstand, dass Steve Young darum kämpfte, aus dem Schatten des legendären Joe Montana herauszutreten. (Side Story: Zufällig fand ich in einem Sportgeschäft in genau dieser Zeit ein Jersey von Joe Montana. Es passte perfekt über mein Shoulder-Pad – von da an war klar, die 49ers sind mein Team). Die 49ers schlugen die Bears und dann die Dallas Cowboys im NFC Championship Game. Ein legendäres Spiel, auf dass ich tagelang wartete, um wenigstens ein paar Schnipsel sehen zu können.
Ich erinnere mich an den Candlestick Park und die Tatsache, dass es eigentlich ein Baseball-Stadion war. An eine vermeintliche Pass Interference von Deion Sanders und daran, dass ein wütender Barry Switzer aufs Spielfeld stürmte. What a game!
An dieser Stelle schließt sich für mich ein kleiner, persönlicher Kreis. Im Januar 2022 durfte ich das Wild Card Game zwischen den Cowboys und den 49ers (zusammen mit Björn und Icke) kommentieren. Ohne, dass jemand tagelang warten muss! Live, auf Deutsch, einfach so im Fernsehen! Und ja, ein paar Dinge waren wohl besser früher. Aber garantiert nicht alle …